Warum haben die Zentralbanken der meisten Industrieländer historisch niedrige Zinssätze, obwohl die Geldmenge schneller wächst als die Produktion? Warum fürchten die Zentralbanken selbst dann noch deflationäre Entwicklungen, wenn die Inflation bereits spürbar anzieht?
Im Zuge der steigenden Inflation werden die amerikanische Notenbank Federal Reserve (Fed) und die Europäische Zentralbank (EZB) erneut für ihre Politik des »billigen Geldes« kritisiert. Seit Beginn der Corona-Maßnahmen hat die EZB nochmals ihre Bilanz stark ausgeweitet. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Subprime-Krise von 2008, der europäischen Schuldenkrise von 2012/2013 und der aktuellen Situation? Und sind die Krisen von heute mit der Hyperinflation von 1923 und der Großen Depression von 1929 vergleichbar?
Wie lässt sich erklären, dass Preisblasen auf den Anlagemärkten mit deflationären Tendenzen auf den Konsumgütermärkten einhergehen? Zur Beantwortung dieser Fragen und der Frage, welche Auswirkungen der Geldzins auf die Geldmenge hat, müssen wir zunächst verstehen, was Geld ist und wie es traditionell geschaffen wird.
Geld wird durch Schulden geschaffen

Die meisten Menschen sind davon überzeugt, dass Geld immer von der Zentralbank geschaffen wird. Dies galt jedoch im sogenannten fraktionellen Reservesystem lange nur für einen sehr kleinen Teil der gesamten Geldmenge. In diesem System wurde der größte Teil der Geldmenge von den Geschäftsbanken durch Kreditvergabe geschaffen.
Nehmen wir an, jemand, der 100 € besitzt, legt dieses Geld als Einlage bei einer Bank an, die im Folgenden als Erste Bank bezeichnet wird. Die Bank leiht dieses Geld dann an andere Kunden aus, wobei sie nur einen Bruchteil des ursprünglichen Betrags als Reserve zurückbehält. Banken können nicht alle ihre Verbindlichkeiten ausleihen, sondern müssen einen Teil des Geldes zurückhalten, weil es immer Kunden geben wird, die ihr Geld abheben wollen. Nehmen wir an, die Erste Bank entscheidet sich für eine Reservehaltung von 10 %, d. h. sie leiht 90 € an einen ihrer anderen Kunden, während die ursprünglichen 100 € noch als Giralgeld verfügbar sind. Der Kreditnehmer der 90 € wird das Geld irgendwo ausgeben, vielleicht kauft er sich ein neues Handy. Die Verkäuferin des Handys nimmt das Geld und zahlt es auf ihr Konto bei ihrer Bank ein, die im Folgenden als Zweite Bank bezeichnet wird. Zu diesem Zeitpunkt ist der ursprüngliche Betrag von 100 € auf 190 € angewachsen. Die Zweite Bank wird wahrscheinlich dasselbe tun wie die Erste Bank: Sie wird das Geld an ihre Kunden verleihen und dabei nur eine kleine Reserve zurückbehalten, wodurch die gesamte Geldmenge (die Geldbasis, Einlagen und andere Schuldtitel) weiter wächst. Dieser Prozess wird so lange fortgesetzt, bis es kein Geld mehr zum Verleihen gibt. Dieser Mechanismus der Geldschöpfung im fraktionellen Reservesystem wird als Geldmengenmultiplikator bezeichnet. Die Geldmenge wächst nicht, wie das einige meinen »ex nihilo« (aus dem Nichts) durch eine Art »Luftbuchung« der Banken, sondern im gesamten Bankensystem.
Finanzkrisen
In der obigen vereinfachten Beschreibung wurden die Zinsen ausgeklammert. Finanzielle Vermögenswerte verdoppeln sich je nach Zinssatz durch Zins und Zinseszins in 10-15 Jahren, wobei sie einer Exponentialfunktion folgen (Bild. 2).
Das bedeutet, dass selbst der schnellste Taschenrechner der Welt irgendwann mangels Nullen mit der daraus resultierenden Zinslast nicht mehr Schritt halten kann. Noch weniger kann ein Wirtschaftssystem auf Dauer eine ausreichende Wirtschaftsleistung erreichen, um den Anforderungen des Zinseszinses gerecht zu werden.

Es sind die Kreditnehmer, die die Zinsen erwirtschaften müssen, die die Banken auf ihre Einlagen zahlen. Banken sind daher nicht nur bemüht, getilgte Kredite möglichst schnell wieder an neue Kunden auszuleihen, um das Kreditvolumen und damit die Zinszahlungen aufrechtzuerhalten. Sie müssen auch das verliehene Volumen ständig ausweiten, weil auch die zinstragenden Einlagen wachsen.
Doch je länger ein Finanzsystem existiert und je größer die Gesamtverschuldung bereits ist, d.h. je mehr Haushalte, Unternehmen und Staat bereits mit Schulden gesättigt sind, desto schwieriger ist dies für die Banken. In ihrem Bemühen, neue Schuldner zu finden, beginnen sie daher, Geld auch an Schuldner mit fragwürdiger Zahlungsfähigkeit und zu niedrigen Zinssätzen zu verleihen, wie es in den USA bis 2008 auf dem Markt für Hypothekenkredite der Fall war und wie es in Europa bis heute der Fall ist mit Krediten an Regierungen.
Das System kollabiert, wenn die Banken nicht mehr genügend solvente Schuldner finden, um die Zinsen, die die Banken auf Einlagen zahlen müssen, zu erwirtschaften. Das letzte Mal, dass dies in großem Umfang geschah, war 1929. Die damalige Situation drohte sich zu wiederholen. Daher beschlossen die Regierungen »Rettungsfonds«, und die Zentralbanken halten die Märkte liquide durch Ankaufen von Staatsanleihen. Seit März 2015 kauft die EZB in groß angelegten Programmen Staatsanleihen sowie auch Unternehmensanleihen auf.
Verschuldung, Inflation und Spekulation
Da, wie oben beschrieben, Geld im Finanzsystem normalerweise durch Kreditvergabe geschaffen wird, wächst die Geldmenge entsprechend der Summe der Gesamtverschuldung. Die Fed hat die Geldmenge M3 seit 2006 nicht mehr veröffentlicht, und das aus gutem Grund. Die Menschen könnten sonst bemerken, dass die Geldmenge deutlich schneller wächst als die Produktivität der US- oder sogar der Weltwirtschaft.
Wenn jedoch die Geldmenge schneller wächst als die Produktion realer Güter, so wird nach Irving Fishers berühmter Verkehrsgleichung Inflation verursacht; wenn auch zunächst nur teilweise, nämlich auf den Investitionsmärkten. Hier lässt sich die Ursache für die Aktien- und Immobilienblasen und die daraus resultierende Finanzkrise von 2008 finden.
Diese Preisblasen werden jedoch nicht als Inflation gewertet, da das wichtigste Maß für die Inflation, der Verbraucherpreisindex, ausschließlich an den Märkten für Konsumgüter und Lebensmittel gemessen wird. Preisblasen auf den Kapitalmärkten können daher als eine Form der »partiellen Inflation« bezeichnet werden. Die Preise steigen nicht aufgrund der Spekulation selbst, sondern die Spekulation ist ein Symptom einer ständig wachsenden Geldmenge, die investiert werden will.
Zwang zum Wirtschaftswachstum
Jetzt können wir verstehen, warum alle Industrienationen und solche, die es werden wollen, nach Wirtschaftswachstum streben. Die Produktion muss jedes Jahr steigen, um die wachsenden Bankzinsen zu bezahlen.
Folglich führt die ständig wachsende Kredit-Geldmenge zu einem wachsenden Anteil an Fremdkapital in den Bilanzen der meisten Unternehmen sowie zu einer wachsenden Staatsverschuldung und zunehmenden Verschuldung der Haushalte. Die Tatsache, dass viele Unternehmen härter arbeiten, um das geliehene Kapital zu bedienen, als für ihren eigenen Gewinn, wurde von Dieter Suhr (1988) hervorgehoben. Selbst Unternehmen, die nicht durch Fremdkapital finanziert werden, sind nicht frei von dem Zwang, eine Rendite zu erzielen, die so hoch ist wie die Fremdkapitalzinsen. Sonst lassen die Opportunitätskosten die Aufrechterhaltung der Produktion sinnlos erscheinen. Und Haushalte, die nicht verschuldet sind, sind gehalten, ihr Einkommen stetig zu erhöhen, weil die Preise für Konsum- und Investitionsgüter durch den in den Preisen enthaltenen Zinsanteil und die Inflation weiter steigen.
Die Auswirkung des Geldzinssatzes auf die Geldschöpfung

Genau besehen gibt es also zwei Faktoren, die die Geldmengenausweitung verursachen: den Geldmengenmultiplikator und den Zinssatz. Dieser zweite, weniger bekannte Effekt könnte als Zinsgeldschöpfung bezeichnet werden und geht mit dem ersten Effekt einher.
Man kann sich fragen: Woher kommt das zusätzliche Geld, das zur Zahlung von Zinsen verwendet wird, wenn sich die Zentralbankgeldmenge nicht erhöht hat? Die Antwort lautet, dass es nur aus einem neuen Kredit stammen kann, der an sich auch wieder die Verpflichtung zur Zahlung von Zinsen beinhaltet. Es ist also unmöglich, dass jeder in einer Wirtschaft, die auf diesem System beruht, seine Kredite tilgt. Irgendjemand muss immer verschuldet sein.
Da Zins- und Zinseszins Einlagen exponentiell wachsen lassen, d. h. anfangs langsam, aber mit der Zeit immer schneller, wird das Problem nicht erkannt, was auch der Grund dafür sein könnte, dass es in Lehrbüchern, die die Giralgeldschöpfung erklären, nicht erwähnt wird. Je länger ein fraktionelles Reservesy stem existiert, desto stärker scheint die Wirkung des Zinsgeldschöpfungseffekts zu sein. Zur Klarstellung: Der Geldmengenmultiplikatoreffekt, der die Geldmenge durch Kredit vergabe ausweitet, ist nicht der Grund für das exponentiele Wachstum der Geldmenge. Der Grund für die exponentiell wachsende Geld menge ist der Zinseszins. Je höher ein Zinssatz ist, desto schne ler wachsen die Bankeinlagen. Gesamtvolkswirtschaftlich gesehen wachsen die Einlagen auch dann exponentiell, wenn der Sparer über seine Zinsgutschriften verfügt. Diese landen wieder auf einem an deren Konto und werden dort verzinst.